Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Frei Otto

Ein Interview mit unserem COO Jürgen Bradatsch

Nachhaltigkeit ist eines der großen Fokusthemen im Bereich der Architektur und begleitet die Baubranche schon seit längerer Zeit. Einer, der seine Konstruktionen neben dem visuellen auch stets unter dem ökologischen Aspekt entwarf, war Frei Otto. Nicht zuletzt deswegen galt er als Pionier und Visionär im Bereich der Leichtbauarchitektur. Viele Jahre hat er mit SL Rasch zusammengearbeitet. Unser COO Jürgen Bradatsch, verantwortlich für die Bereiche Design und Engineering, erinnert sich in an die gemeinsame Zeit.

Herr Bradatsch, Frei Otto war Ihr Dozent während Ihres Studiums. Was war Ihr erster Eindruck von ihm?

Mein erster großer Eindruck von Frei Otto entstand 1980 bei einem seiner legendären Vorträge
„Natürliche Konstruktionen“. Großartig einfache Gedanken über ein Bauen, das sich natürliche Prozesse zunutze macht, um mit minimalem Material- und Energieaufwand Formen für effiziente Tragstrukturen zu finden. Gestalt, die nicht vordergründig künstlerischer Willkür folgt, sondern physikalischen Prinzipien. Das war alles höchst vertraut, aber so noch nie erkannt und mir wurde bewusst, wohin mein Weg gehen soll. Daraufhin habe ich mich bei ihm für eine Mitarbeit in seinem Atelier vorgestellt. Ich habe einen äußerst offenen, interessierten und zugewandten Menschen kennengelernt, der meine Unterstützung willkommen hieß. So hatte ich das Glück, in Frei Otto meinen Lehrer gefunden zu haben.

Welche Charaktereigenschaft zeichnete ihn in Ihren Augen besonders aus?

Frei Otto war weltoffen. So konnte er sowohl Menschen unvoreingenommen begegnen als auch unterschiedlichste Aufgabenstellungen annehmen und ganz grundsätzlich hinterfragen. Das war unter anderem seine Basis, um mit wachem Blick auf das Wesentliche und mit mutigem Erfindergeist Bekanntes weiterzuentwickeln. Dadurch konnte er mit großer Kreativität und Forscherdisziplin Neues entdecken und schaffen. Er hatte damals schon erkannt, dass nicht jede Funktion eine permanente bauliche Lösung erfordert und wenn schon gebaut werden soll, dann nie gegen die Natur sondern mit Respekt und bestem wissenschaftlich ergründeten Verständnis von dieser. Frei Otto hat all seine Bauwerke mit größter Aufmerksamkeit und Behutsamkeit in die bestehende klimatische und geographische Situation integriert, um nicht im Widerspruch zu den örtlichen Gegebenheiten zu bauen, sondern die jeweiligen Besonderheiten der Orte bestmöglich zu nutzen und so die Natur zu schonen. Er hat immer wieder neue Lösungen und Formen für höchst effiziente Konstruktionen entwickelt, die mit geringstem Aufwand an Material und Energie größtmöglichen Nutzen für gegebene Zwecke schaffen. Dabei entstanden Leichtbauarchitekturen mit selbstverständlicher, natürlicher Schönheit. Frei Otto hat sich in seiner Arbeit um Natur und die Menschen gekümmert und die größte Auszeichnung und Freude für ihn war, wenn seine Bauwerke geliebt wurden.

Frei Otto hat zu einem späteren Zeitpunkt mit Ihrem Büro zusammengearbeitet. Wie kam es dazu?

Frei Otto hatte mich 1985 Bodo Rasch vorgestellt, der damals Unterstützung für die Planung von Schattendachkonstruktionen für die großen Moscheen und Pilgerstätten in Saudi Arabien suchte. Wir haben dann gemeinsam nach der Philosophie und nach den wissenschaftlichen Methoden Frei Ottos Zelt- und wandelbare Schattendachkonstruktionen entwickelt und ausgeführt. Aus dieser Zusammenarbeit entstand die SL Rasch GmbH Special & Lightweight Structures. Frei Otto hat unsere Arbeit von Beginn an begleitet und sah in dieser auch eine Fortführung seiner Designschule. Er wurde dann auch offizieller Berater unseres Architekturbüros, für das er bis zu seinem Tod im Jahr 2015 tätig war.

Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit ihm empfunden?

In jedem Falle fruchtbar und kreativ. In der Spanne von begeisternd-inspirierenden Ideenfindungsprozessen bis teilweise sehr strapaziösen Diskussionen über die exakte Ausformung des letzten technischen Details. Frei Otto hat in keiner Phase eines Projektes jemals locker gelassen, bis das klarste Ergebnis für eine Aufgabenstellung gefunden war – wobei er aber nicht diktiert hat. Diese sachliche Arbeitsweise unter Ausschluss von Beliebigkeit und Willkür hat eine sehr intensive und freundschaftliche Zusammenarbeit ermöglicht.

Wie hat Frei Otto Ihre Arbeit und auch Sie persönlich bis heute geprägt?

Unsere Bauten sind immer künstliche Maßnahmen und im besten Falle sind sie Baukunst, die Natur und Technik vereinen. Von seinen Arbeiten sagte Frei Otto selbst, dass sie Gestalt gewordene Auseinandersetzungen mit der Natur sind. Ich durfte an einigen dieser Auseinandersetzungen teilhaben. Frei Otto hat kompromisslos darauf geachtet, dass wir die einfachsten und objektiv besten Lösungen finden und erachtete es als Glück, am Ende dieses Prozesses dann auch Schönheit zu finden – ganz im platonischen Sinne: „Das Schöne ist der Glanz des Wahren“. Auf diesem Weg bemühe ich mich weiterzugehen.

Was war das aus ihrer Sicht bemerkenswerteste Projekt von Frei Otto?

Der Deutsche Pavillon auf der EXPO 1967 in Montreal. Frei Otto hat damit weltweit Anerkennung erlangt und der neuen ingenieurmäßigen Membranbauweise zum Durchbruch verholfen. Das seilnetzgestützte Membrandach in natürlicher Minimalflächenform war die leichteste und effizienteste Bauweise für diesen Pavillon. Die nicht-lineare Geometrie dieses Raumes mit seinem freien, offenen, dynamischen Charakter gehörte nicht einer Stilrichtung oder einer einzigen Kultur an, sondern folgte Naturgesetzen. Ein Raum, in dem sich Menschen aus aller Welt ohne Vorbehalt begegnen konnten.

Welchen Einfluss werden Frei Ottos Denkweise und seine Ansätze noch auf zukünftige Generationen von Architekten haben?

In Anbetracht der Ressourcenverknappung von Baustoffen, Wasser und Nahrung sowie der Klimaerwärmung und den damit verbunden gesellschaftliche Veränderungen sind Frei Ottos Ansätze aktueller denn je. Unsere Eingriffe in die Natur müssen minimal und äußerst behutsam sein. Bauwerke müssen mit geringstem Aufwand an Material und Energie errichtet, unterhalten, entsorgt oder noch besser: wiederverwendet werden. Anstelle permanenter Bauten sollten verstärkt mobile und wandelbare Strukturen zum Einsatz kommen, deren Nutzung flexibel ist und die an sich verändernde Gesellschaftsstrukturen anpassbar sind. Um die komplexen Herausforderungen unserer Zeit meistern zu können müssen wir interdisziplinär und frei über alle Disziplinen hinweg denken und handeln. Wir wissen wohl, dass wir den Himmel auf Erden nicht bauen können. Aber wir wollen doch alle Anstrengung darauf verwenden, Bauten für eine natürlich-humane Umwelt zu schaffen.